Bitte geben Sie einen Suchbegriff ein, um die Suche zu starten.

Inwardo

Aynwardo, Gülgöze, “Rosenquelle“

Ortsbild Inwardo

1. Der Ort

Auf einer Anhöhe gelegen, ca. 11 km nordöstlich von Midyat, ist Inwardo einer der bekanntesten Orte des Tur Abdin. Zur Zeit des I. Weltkrieges lebten hier 200 syrisch-orthodoxe Familien. Im Dorf stehen drei Kirchen, die größte Mar Hadbischabo-Kirche war zu einer Festung ausgebaut. Im ersten Weltkrieg war es - neben Azakh - das einzige Dorf im osmanischen Reich, das den Angriffen der Kurden und Türken widerstand. 1980 lebten hier noch 90 christliche Familien.

2. Die Geschehnisse

Im Frühsommer 1915 retteten sich viele Flüchtlinge vor den Verfolgungen in anderen Dörfern und Orten des Tur Abdin nach Inwardo, so dass die Zahl der Bewohner auf 7.000 anstieg.

Nachdem im Juli die Türken, Kurden und Mhallami Midyat erobert hatten, begann der Angriff auf Inwardo. An einem Freitag Ende Juli 1915 begann der Beschuss des Dorfes von einer gegenüberliegenden Anhöhe. Es folgten bis Ende August Belagerung, Angriffe und Gegenangriffe.Da für die Angreifer der Sieg ausblieb, wollten sie das Dorf über Verhandlungen zur Aufgabe zwingen. Die Aramäer forderten einen Verhandlungsführer, der bei ihnen wie auch bei den Kurden Autorität genoss und forderten den Scheich Fathulla aus Ayn-Kif als solchen an. Als er kam, begaben sich die Aramäer unter seinen Schutz und baten um seine Hilfe. Er beruhigte sie und ging zu den osmanischen Führern, die ihrerseits versprachen, die kurdischen Sippen aus der Umgebung des Dorfes abziehen zu lassen und ihnen zu befehlen, das Dorf nicht mehr anzugreifen. Nachdem sie diese Vereinbarung beschlossen hatten, sammelten die Aramäer die Waffen und schickten sie zu Fathulla. Anschließend zogen sich die osmanischen Streitkräfte und die kurdischen Sippen zurück, und Scheich Fathulla ermahnte sie, den Christen keinen weiteren Schaden zuzufügen.

Der Krieg zwischen beiden Parteien hatte fast zwei Monate gedauert. Auf Seiten der Verteidiger kamen ca. 300 Menschen um, auf Seiten der Angreifer etwa 200. Die Kurden griffen Inwardo nicht mehr an, töteten aber viele Christen die den Ort verließen, um in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Auf diese Art wurden mehr Aramäer getötet als in den zwei Monaten der Belagerung und des Kampfes. Auch Mas‘ud Shabo, der Anführer der Verteidigung, wurde in Kafro erschossen.

3. Ein persönlicher Bericht

Nach einem Zurückweichen der Verteidiger „kam Mas‘ud und brüllte die Kämpfer wie ein Löwe an,... gab ihnen Mut und befahl ihnen, zum Kampf zurückzugehen... Er ging ihnen voraus, und sie folgten ihm... sie errangen einen Sieg über die Gottlosen, die den Kampf verloren und flüchteten... Ein mutiger junger Mann aus Mzizah konnte ihnen ihre Kriegsfahne abnehmen und in die Kirche bringen, wo sie der Bischof ins Feuer werfen ließ.“


Großmutter wurde nach Bazgur verschleppt.

Was meine Urgroßmutter meiner Mutter - ihrer Enkelin - über ihre Verschleppung während des Sayfo 1915 nach Bazgur erzählte

Der Mann wollte mich heiraten, ich sagte aber, dass ich schwanger sei.

In seinem Haus angekommen, schaute ich mich um, der Mann hatte Frau und Kinder. Hier also würde ich wohnen und den Mann mit dieser Frau teilen.

Das wurde mir langsam klar, ich konnte, nachdem die Verschleppung und der damit folgenden Hilflosigkeit und Ohnmacht sich gelegt hatten, das nun realistisch sehen, was mich hier erwartete. Das sollte das neue Zuhause sein. Doch, hier  kann ich nicht leben. Der Mann war schon gegangen, wir blieben allein zurück, die Frau und ich und die beiden Kinder. Ich muss schnell handeln, das weiß ich, ich kann die Frau überwältigen, ich weiß es, sie ist wesentlich kleiner als ich und nicht so behände. Doch sie wird, sobald ich ihr  nahe, zu Hilfe schreien. Die anderen werden ihr sofort zu Hilfe kommen und ohne zu Zögern auf mich einschlagen. Ich lache ironisch, das ist sogar eine Möglichkeit, nicht am Leben zu bleiben. Doch ich denke an mein Kind, an meine Kinder zu Hause. Ohne eine Mutter wird ihr Schicksal hart sein, sie sind ja schon ohne Vater. Ich gehe auf die Frau zu, sie muss mich gehen lassen. Ich habe keine Zeit mehr, der Mann kann jeden Moment kommen.

Während des Verschleppens aus Ivardo, als man nach uns Frauen griff, so gewaltsam, so entmenschlicht, verloren die meisten Frauen den Verstand. Es war die völlige Ohnmacht vor der irrsinnigen Wüterei. Doch ich behielt die Männer im Blick, als sie mir nahten und grölend schrien, blieb ich ruhig und sagte laut, fast gebieterisch: „Ich bin schwanger, einer schwangeren Christin darf ein Moslem nicht nahtreten, das ist Sünde.“. Ich blieb standhaft, hielt meine Hände an mein Bauch, wich nicht zurück, dass hätte keinen Sinn gemacht, sie würden dann auf mich losgehen. Sie blieben stehen, sahen mich verwundert an. Der Anführer schaute nach uns, „Sie sagt, sie ist schwanger. Was machen wir mit ihr?“ Er blickt zu mir, mustert mich mit seinem Blick. Keine Angst zeigen, sage ich mir, du darfst keine Angst zeigen, dann hast du eine Chance. Es muss ihm imponiert haben, meine Haltung, meine Entschlossenheit, entschlossen wendet er sich dann an seine Männer „Sie hat recht, wir dürfen uns nicht versündigen, lasst sie, kommt gehen wir zurück. Die Frauen laufen vorweg!“  Wir werden getrieben, laufen schnellen Schritts, ich drehe mich nicht einmal um. Das Jammern der anderen beginnt. Nach einer kurzen Zeit, trennen sich die Männer, nehmen die anderen Frauen mit, nur ich laufe mit einigen Männern und ihrem Anführer weiter. Ich weiß nicht wohin wir laufen, wohin man mich bringt. Ich rede nicht, jammere und weine auch nicht, auch nicht still vor mich hin. Sie sollen nicht denken, dass ich Angst habe, dann würden sie, schon aus Bosheit, mir mehr Angst machen. Nein, ich muss meine Sinne zusammenhalten, ich muss den Weg, wie lang er auch sein mag, zurückkehren. Ich blicke zwar immer nach vorn, und der Anführer hat mich immer im Blick, doch ich behalte den Weg in Gedanken, ich versuche, mir den Wald  zu merken, der Verlauf zu behalten. Ich zähle die Dörfer. Ich muss diesen Weg zurückkehren. Ich werde ihn zurückkehren. Aber wo sind wir und wie lange laufen wir schon?

Die Männer sprechen laut, erzählen sich Gräueltaten, verübt an den Christen. Diese Männer sind keine Menschen mehr, widerlich aussehend, bar jeder Vernunft und Haltung.  Es scheint, dass es ihnen am meisten Freude macht, grinsend von ihren Heimtücken und Hinterhalten zu erzählen. Sie reden in Fetzen, nicht zusammenhängend. Höhnisch lachend erzählen sie, wie leicht die Christen auf ihre falschen Schwüre und Eide hereinfielen, wie sie Wehrlose und Schwache misshandelten und dann umbrachten. Sie besprechen weitere Angriffe. Es ist schrecklich was ich höre, doch ich bleibe standhaft, ich brauche meine Kraft für den Weg zurück, ich jammere mich, ich rede nicht, der Anführer mustert mich immer wieder.

Wir kommen an in Bazgur, langsam dunkelt es. Die Männer verteilen sich, ich folge dem Anführer. Wir gehen in sein Haus. Der Mann wird von seiner Frau begrüßt, zwei kleine Kinder sitzen in der Ecke. Er sprach sogleich gebieterisch mit der Frau, gab ihr Anweisungen. Dann wandte sich an mich, er herrscht mich an, ich soll mein Kleid ausziehen. Ich halte kurz inne, dann streife ich mir das Kleid ab, ohne zu Zögern. Auch das Unterhemd soll ich  ausziehen. Ich schlucke schwer, doch ich ziehe dieses auch ab, halte aber meine Arme nun vor die Brust und bleibe mit trockner Kehle und ohne zu Wanken vor dem Mann stehen. Ich weiß, was er vorhat.
Er nimmt meine Kleidung an sich, herrscht seine Frau an und verlässt das Haus.
Er geht, einen Mullah holen, um mich zu ehelichen, er darf mir nicht zu nahe treten, solange ich schwanger bin. Er will sicher sein, dass ich ihm bleibe, damit ein anderer mich ihm nicht entreißt, deshalb muss er den Mullah holen und mich also ehelichen.
Das darf nicht sein, ich muss hier raus und zurückkehren. Ich wende mich an die Frau: „ Lass mich gehen!“  „Nein, das kann ich nicht. Er hat geschworen, dass er mich umbringt, wenn ich dich gehen lasse“. „Höre zu, was ich dir sage: wenn dein Mann zurückkommt und er bringt den Mullah, um mich zu ehelichen, dann werde ich dir das Leben zu Hölle machen. Ich bin stärker und schöner als du, ich werde dir deinen Mann wegnehmen, ihn gegen dich hetzen und dich schließlich umbringen. Es ist besser für dich, wenn du mich weggehen lässt“. „Wie soll ich das denn machen“? „Mache die Tür auf und ich geh los. Du wartest eine kleine Weile, dann schreie nach Hilfe und wenn die Leute kommen, sage, dass ich ausgetreten bin und nicht wiedergekommen sei.“

Ich bleibe gebieterisch, sie muss handeln, wir haben keine Zeit. Die Frau nickt, macht die Tür auf. Ich  blicke hastig um mich suche die Richtung des Waldes und renne los. Es ist  bereits  dunkel, es nieselt und es ist  windig. Ich gelange zum Dorfende, der Wald ist nah, ich renne auf den Wald zu. Ich renne, ich muss meinen Vorsprung vergrößern, die anderen werden folgen. Hier im Wald renne ich besser als im Dorf das kurze Ende. Ohne Kleidung ist es nicht einfach. Ich renne ohne mich umzublicken. Der Regen und der Wind machen Geräusche, meine wird man also nicht hören. Sie werden folgen, sie werden nach mir suchen, aber Öllampen und Fackeln wird der Regen, der Wind auslöschen, denke ich. Da bin ich sicher, doch jetzt höre ich sie, jetzt höre ich ihre  Stimmen, auch schon ihre Schritte. Sie  schreien, sie fluchen, verwünschen. Es sind viele, viele Stimmen, diesmal werden sie mich nicht schonen. Die Stimmen kommen nah, die vielen Schritte, sie drohen, und beschimpfen. Renne, nicht zaudern, renne! Sie kommen näher, rennen auf  dem Weg,  der ins Dorf  führt. Der Regen fällt und der Wind heult, sie hören mich deshalb nicht. Renne, nicht stehenbleiben, du darfst Ihnen nicht in die Hände fallen, nicht lebend. Eine Schlucht wäre gut, nicht lebend, nein nicht lebend, eine Schlucht wäre gut. Sie werden mich nicht mehr schonen. Ich will keine Schonung, kein Leben mit diesen. Nicht lebend, nicht lebend, eher den Tod, eine Schlucht wäre gut. Meine Gedanken kreisen: Renne! und sie dürfen dich  nicht lebend einholen. So rannten wir eine Weile nebeneinander, die Männer auf dem Weg, wutentbrannt, schimpfend, ich durch den Wald, durch Gestrüpp, durch Bäume.  Während der Regen fällt und der Wind heult; der Weg biegt ab, die Stimmen, die Schritte klingen weiter weg, ich renne weiter, atemlos. jetzt halte ich die Hand vor dem Bauch, um es zu erwärmen.

Ich hebe den Kopf hoch. Der Mond scheint nicht, ach, es regnet ja. Die Tiere, auch Raubtiere blieben in ihren Höhlen und Bauten, ja, ja, es regnet. Es ist gut, dass es regnet, dass der Mond nicht scheint. So bin ich geschützt. So wird man mich nicht sehen und hören. Wie lang laufe ich schon? Wie viele Dörfer habe ich schon passiert? Wo befinde ich mich?  Kein Licht am Himmel, es  ist finster, nur der Regen fällt und der Wind heult leise. Ich taste nach meine  Arme und Beine, sie haben Schrammen, Abschürfungen, Blut läuft hier und da, der Regen, er wird sanfter, wäscht es ab.  Langsam hört der Wind auf, der Mond zeigt sich jetzt, es klart. Doch wo bin ich? Ist der Weg richtig? Welche Zeit ist es? Wo liegt Ivardo? Wie weit noch?

Ich halte die Hände an meinen Bauch: „Mein Kind, du hast mich errettet, du hast deine Mutter gerettet, wir gehen gemeinsam nach Hause. Mutter Gottes, Du hast mich beschützt, mich und mein Kind. Bringe Du uns heim!

Ich denke an meine anderen Kinder. Die sind doch noch so klein und ohne Vater. Mein Mann verstarb zwei Monate, bevor der Sayfo über uns hereinbrach. Wenn es ein Junge ist, erhält er deinen Namen. So wirst du bei uns und mit uns sein. Ich werde keinem anderen gehören, das verspreche ich dir, Malke!
Doch, renne, nur in der der Dunkelheit bist du sicher, du musst noch in der Dunkelheit nach Hause. Der Regen hört auf, ich renne weiter. Wie weit noch? Warum verspüre ich keinen Hunger? Das letzte Mal habe sie doch in Ivardo gegessen, bevor wir verschleppt wurden. Was ist mit den anderen geschehen? Wo bin ich jetzt? In wenigen Häusern brennt Licht, das ist ein weiteres Dorf; Wie viele habe ich schon gezählt. Wo bin ich jetzt? Langsam müsste ich nach Hause kommen. Es dämmerte. Dennoch, ich lief und lief. Doch, plötzlich kam mir der Wald bekannt vor, ja die Bäume, diese alten Bäume erkenne ich, das müsste der Wald des Dorfes sein, das müsste  Xalbube sein. Ja, auch die Schlucht sehe ich, ich war glücklich, ich bin angekommen. Mutter Gottes Du hast mich und mein Kind heimgebracht!
Ich laufe den Weg nach Hause, aber immer im Schutz von Zäunen, Bäumen, Gebäuden. Nur nicht von Leuten gesehen werden, das wäre unhaltbar, so nackt. Zu Hause angekommen steige ich die Treppen hoch. So kann ich nicht reingehen, undenkbar, ich werde vor Scham vergehen, wenn mir mein Schwager begegnet. Ich verstecke mich hinter einem großen Stein im Hof und rufe den Namen meiner Schwägerin, gerade so laut, dass sie mich hören kann. Sie ist aber schwerhörig, ich rufe etwas lauter ihren Spitznamen: Qarre! (Schwerhörige).

Qarre öffnete die Tür, blickt um sich und sieht aber niemanden. Ich hebe den Kopf hinter dem Stein im Hof: „Qarre bringe mir ein Kleid. Ich bin nackt und kann so nicht reingehen“.  Qarre brachte mir  ein Kleid, ich zog es an und ging hinein. Mein Schwager Shabo sah mich an, Qarre muss ihm erzählt haben, dass ich zurückgekehrt sei, als sie das Kleid holte. Er sagte überwältig vor Freude und mit Tränen: „Sei herzlich willkommen, du hast großartiges vollbracht, dass du entkommen bist.“  Er sah mich an, Tränen liefen über sein Gesicht, er ging hinaus, er konnte nicht mehr an sich halten. Er hat Blutflecken durch das Kleid gesehen. Er wusste wohl, dass ich im fünften Monat war.

Erzählt hat meine Großmutter nicht viel. Ihre Flucht hat sie viele, viele Jahre später erst meiner Mutter, ihrer Enkelin, erzählt. Sie erzählte es ohne Groll und Hass mit Haltung und Würde.